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Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem Urteil vom 19.10.2022, Az. BVerwG 8 C 15.21, zum verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsverfahren klargestellt, dass Eingriffe in die körperliche Bewegungsfreiheit durch Sicherheitsbehörden der DDR grundsätzlich verwaltungsrechtlich zu rehabilitieren sein können. Diese Eingriffe können nicht ohne weiteres als systembedingte Nachteile dem allgemeinen Schicksal der Bevölkerung der DDR zugerechnet werden. Eingriffe in die Rechtsgüter Leben und Gesundheit und in die körperliche Bewegungsfreiheit überschreiten demnach immer die Schwelle der für die Annahme einer Verfolgung erforderlichen Eingriffsintensität. Nur bei einer Beeinträchtigung anderer Rechte muss eine wertende Beurteilung vorgenommen und geprüft werden, ob derartige Eingriffe und Benachteiligungen systembedingt mehr oder weniger allgemeines DDR-Schicksal waren. Die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung setzt aber auch insoweit kein über eine ungleiche Betroffenheit hinausgehendes drastisches Sonderopfer voraus.

In dem von mir für den Kläger geführten Revisionsverfahren ging es u. a. um die Überwachung des Klägers durch Gesellschaftliche und Informelle Mitarbeiter der Stasi während seines Grundwehrdienstes bei der NVA, mehrere Festnahmen des Klägers durch Sicherheitsbehörden der DDR, die zum Teil der Durchsetzung eines gegen den Kläger verhängten Verbots privater Fotoausstellungen dienten. Eine weitere Festnahme erfolgte im Zusammenhang mit einem Rockkonzert am Brandenburger Tor, als der Kläger Fotos von weiteren Verhaftungen machte.

Die Überwachung durch Mitarbeiter und Informelle Mitarbeiter der Stasi während des Grundwehrdienstes stellte nach dem Urteil eine hoheitliche Maßnahme im Einzelfall dar, die individuell und konkret auf die Person des Klägers ausgerichtet war. Diese Bespitzelung stellte kein Allgemeinschicksal aller DDR-Bürger dar. Sie verstieß in schwerwiegender Weise gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Es wurde hierdurch in erheblicher Weise in die Persönlichkeitssphäre des Klägers eingegriffen und mit der operativen Kontrolle kein legitimes Ziel verfolgt. Dabei könne offen bleiben, ob die Maßnahme der politischen Verfolgung gedient habe, da sie jedenfalls willkürlich war. Die Überwachung durch die Staatssichert diente dazu, den Kläger unter Kontrolle zu halten und ihn zu selbstbelastenden Aussagen über mögliche Fluchtpläne zu verleiten.

Sämtliche Festnahmen stellten hoheitliche Maßnahmen im Einzelfall dar, die mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats unvereinbar waren, da sie als willkürlich anzusehen waren. Zudem war auch das ausgesprochene Verbot privater Fotoausstellungen nicht dem Bereich allgemeiner Beeinträchtigungen der DDR zuzuordnen. Eine solche Maßnahme geht über ein bloßes Ausstellungsverbot im Sinne einer zensierenden Kulturpolitik hinaus und erhält ihren rechtsstaatswidrigen Charakter durch die staatlicherseits hergestellte Verbindung zwischen bereits erlittener Haft, einem gegenüber dem Kläger ausgesprochenen Verbot privater Fotoausstellungen und der Androhung weiterer Haft im Falle der Zuwiderhandlung.

Fundstelle: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19.10.2022, Az. BVerwG 8 C 15.21

Der Koalitionsvertrag sieht für das Arbeitsrecht eine ganze Reihe von Neuerungen vor. Die Koalition aus SPD, FDP und Grünen hat sich auf die Anhebung des Mindestlohnes auf 12,00 € pro Stunde geeinigt. Flexible Arbeitszeitmodelle sollen ermöglicht werden. Experimentierräume sollen auch die begrenzte Möglichkeit zur Abweichung hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit vorsehen. Das Homeoffice soll als eine Möglichkeit der Mobilen Arbeit rechtlich von der Telearbeit und dem Geltungsbereich der Arbeitsstättenverordnung abgegrenzt werden. Coworking-Spaces werden begrüßt. Es soll einen  Erörterungsanspruch über mobiles Arbeiten und Homeoffice geben. Der Arbeitgeber darf den Wunsch des Arbeitnehmers nach einer Arbeit im Homeoffice nicht aus sachfremden oder willkürlichen Gründen ablehnen.

Die Midi-Job-Grenze wird auf 1.600,00 € erhöht. Die Minijob-Grenze wird sich zukünftig an einer Wochenarbeitszeit von 10 Stunden zu Mindestlohnbedingungen orientieren und damit auf 520,00 € monatlich erhöht werden. Die Einhaltung des geltenden Arbeitsrechts soll bei den Mini-Jobs stärker kontrolliert werden.

Im öffentlichen Dienst soll (endlich) die Möglichkeit der Haushaltsbefristung abgeschafft werden. Sachgrundlose Befristungen will der Bund als Arbeitgeber Schritt für Schritt abbauen. Kettenbefristungen (mit Sachgrund befristete Arbeitsverträge beim selben Arbeitgeber) sollen auf sechs Jahre befristet werden, wobei in Ausnahmefällen ein Überschreiten dieser Höchstdauer weiterhin möglich sein soll.

Für Saisonbeschäftigte soll für den vollen Krankenversicherungsschutz ab dem ersten Tag der Beschäftigung gesorgt werden.

Online-Betriebsratswahlen sollen erprobt werden. Betriebsräte sollen selbst entscheiden können, ob sie analog oder digital arbeiten wollen. Die Staatsanwaltschaft soll die Straftat der Behinderung der demokratischen Mitbestimmung aus dem Betriebsverfassungsgesetz in Zukunft von Amts wegen aufklären müssen (und nicht wie bisher nur auf Antrag tätig werden).

Die Weiter- und Fortbildung soll unterstützt werden. Es soll hier einer Erweiterung des Bafögs für die Weiterbildung geben. Ein Qualifizierungsgeld, das an das Kurzarbeitergeld angelehnt ist, soll eingeführt werden. Für Arbeitslose soll klargestellt werden, dass die Vermittlung in Arbeit keinen Vorrang vor einer beruflichen Aus- und Weiterbildung hat. Durch ein Weiterbildungsgeld von 150,00 € monatlich soll ein wirksamer Anreiz zur Weiterbildung für alle Arbeitslosen entstehen.

Fundstelle: Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, „Mehr Fortschritt wagen Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ vom 24.11.2021

Das Strafrecht soll nach dem Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen wieder zur Ultima Ratio (letztes Mittel) werden. Das ist erfreulich, dem Ansatz widerspricht allerdings, dass Teile des Tierschutzrechts in das Strafrecht überführt werden sollen und dass das maximale Strafmaß erhöht werden soll. Dafür soll das strafrechtliche Verbot der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch nach § 219a StGB gestrichen werden, damit Ärztinnen und Ärzte öffentliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen.

Es soll die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften eingeführt werden, damit die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet werden kann. Es dürfte daher zu erwarten sein, dass auch die Strafbarkeit der Betäubungsmitteldelikte im Hinblick auf Cannabis entsprechend angepasst wird.

Der Straftatbestand der Behinderung der Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz (§ 119 Abs. 1 BetrVG) soll von einem Antragsdelikt zu einem Offizialdelikt hochgestuft werden.

Nach dem Koalitionsvertrag soll eine Regelung geschaffen werden, dass Vernehmungen und Hauptverhandlung in Bild und Ton aufgezeichnet werden müssen (audiovisuelle Beweisaufnahme). Gleichzeitig sollen die Gerichtsverfahren schneller und effizienter werden, ohne dass dabei aber die Rechte der Beschuldigten und deren Verteidigung beeinträchtigt werden.

Die Regelungen zum Einsatz von V-Personen, zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung, zur Online-Durchsuchung und zur anlasslosen und verdachtsunabhängigen Vorratsdatenspeicherung sollen überarbeitet werden. Die staatlich veranlasste Tatprovokation einer Straftat soll grundsätzlich verboten werden.

Fundstelle: Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, „Mehr Fortschritt wagen Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit vom 24.11.2021

Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Beschluss vom 09.12.2021, Az. 2 BvR 1985/16, erneut die Pflicht zur Amtsermittlung des Sachverhaltes im strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahren betont und hob ablehnende Rehabilitierungsbeschlüsse des Landgerichts Schwerin und des Oberlandesgerichts Rostock daher auf. Die Sache wird nunmehr erneut vor dem Landgericht Schwerin verhandelt.

Der Betroffene war in ein Heim eingewiesen worden, nachdem er zusammen mit der Mutter beim Versuch einer sogenannten Republikflicht über die Tschechoslowakei im Alter von 13 Jahren inhaftiert worden war. Die Mutter wurde strafrechtlich verurteilt und konnte nach einer mehrmonatigen Haftstrafe nach Westdeutschland ausreisen. Ihren Sohn konnte sie erst 6 Monate später aus dem Heim abholen.

Der Rehabilitierungsantrag des betroffenen Heimkindes wurde von den Rehabilitierungsgerichten dennoch abgelehnt. Dies war nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts rechtswidrig, die Gerichte hätten den Sachverhalt umfassend aufklären müssen. Im konkreten Fall hätten sie den Hinweisen auf die Aufnahmebereitschaft des älteren Halbbruders, der zu diesem Zeitpunkt bereits in der Bundesrepublik lebte, sowie der Großeltern stiefväterlicherseits nachgehen müssen.

Zudem hätte aufgeklärt werden müssen, weshalb der Betroffene nach der Ausreise der Mutter noch weitere sechs Monate im Heim verbringen musste. Das Rehabilitierungsgericht durfte hier nicht einfach von organisatorisch-bürokratischen Hemmnissen ausgehen, ohne dies weiter aufgeklärt zu haben. Zumal sich für das Vorliegen der angeblich organisatorisch-bürokratischer Hemmnisse in den Akten nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine dokumentierten Verfahrensschritte von einer bestimmten Dauer finden.

Vom Oberlandesgericht angenommene Unterhaltsrückstände und diesbezügliche Unstimmigkeiten dürften jedenfalls unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten kein anerkennenswertes Hemmnis für die verzögerte Heimentlassung darstellen. Das Bundesverfassungsgericht nahm insoweit auch einen Verstoß gegen das Willkürverbot durch die Begründung de abgelehnte Rehabilitierung an.

Fundstellen: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 09.12.2021, Az. 2 BvR 1985/16, Pressemitteilung Nr. 110/2021 „Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde betreffend die Rehabilitierung des Beschwerdeführers wegen einer Heimunterbringung in der ehemaligen DDR“ vom 29.12.2021

Was hat sich die neue Koalition aus Sozialdemokraten,  Grünen und Freien Demokraten zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts vorgenommen?

Laut dem geschlossenen Koalitionsvertrag soll die Beantragung und Bewilligung von Hilfen und Leistungen für Opfer der SED-Diktatur -insbesondere für gesundheitliche Folgeschäden- erleichtert werden. Die Opferrente soll dynamisiert werden. Die Definition der Opfergruppen soll an die Forschung angepasst werden.

Die Erinnerungskultur und das begangene SED-Unrecht sollen bei der Ausweisung des Naturschutzprojekts „Das europäische Grüne Band“ auf dem ehemaligen Grenzstreifen berücksichtigt werden. Die Einrichtung des Archivzentrums SED-Diktatur soll unterstützt werden, die Standorte der Außenstellen des Stasi-Unterlagen-Archivs sollen qualitativ weiterentwickelt werden.

Zudem soll ein bundesweiter Härtefallfond für die Opfer eingerichtet werden und hierfür die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge weiterentwickelt werden. Sehr konkret sind diese Punkte im Koalitionsvertrag nicht ausgestaltet, man darf gespannt bleiben. Die Erleichterung der Anerkennung von gesundheitlichen Folgeschäden erscheint mir jedenfalls dringend notwendig zu sein.

Fundstelle: Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, „Mehr Fortschritt wagen Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ vom 24.11.2021

Die gesetzliche Vermutung der politischen Verfolgung und des sachfremden Einweisungsgrundes für Spezialheime und Jugendwerkhöfe beschäftigt weiterhin die Gerichte. In einem vom Brandenburgischen Oberlandesgericht entschiedenen Fall ging es um die Rehabilitierung eines Heimkindes, welches in einem Spezialkinderheim untergebracht worden war.

Das Landgericht Potsdam konnte die Gründe der Einweisung nicht mehr vollständig aufzuklären, da die Unterlagen aus dem Anordnungsverfahren nicht mehr auffindbar waren. Aus zwei Schulzeugnissen aus der Zeit vor der Einweisung ging zwar hervor, dass die Betroffene Schwierigkeiten habe die schulischen und außerschulischen Aufgaben zu erfüllen und dass sie im Unterricht störe. Sie habe erhebliche Fehlzeiten in der Schule, sie habe im Schuljahr an 80 Tagen gefehlt, wovon 74 Tage unentschuldigt waren. Die schulischen Leistungen wurden dagegen mit Noten zwischen „genügend“ und „sehr gut“ bewertet.

Das Landgericht konnte keine spezifischen Umstände erkennen, die gerade die Unterbringung im Spezialheim gerechtfertigt hätte. Es kämen auch Gründe für die Heimeinweisung in Betracht, die nicht allein in der Person der betroffenen Antragstellerin gelegen haben. Das Landgericht rehabilitierte die Betroffene daher für die Zeit der Unterbringung im Spezialkinderheim.

Die Staatsanwaltschaft Potsdam hatte gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt, um zu klären, ob eine massive Verletzung der Schulpflicht als Tatsache anzuerkennen ist, die die gesetzliche Vermutung der politischen Verfolgung oder die Vermutung eines sachfremden Einweisungsmotivs aus § 10 Abs. 3 StrRehaG widerlegt.

Das Brandenburgische Oberlandesgericht verneinte diese Frage in dem Beschluss vom 07.01.2021, da im vorliegenden Fall nicht positiv festgestellt werden konnte, dass die Heimeinweisung fürsorglich bedingt war. Hierfür hätte das Landgericht nämlich auch feststellen müssen, dass die Unterbringung im Normalkinderheim nicht ausreichend gewesen wäre.

Fundstellen: Landgericht Potsdam, Beschluss vom 22.06.2020, Az. 2 Reha 15/18; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 07.01.2021, Az. 2 Reha 15/20

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat sich in dem Beschluss vom 16.06.2021, Az. 108/20, mit einem Rehabilitierungsverfahren befasst, in dem es um einen Betroffenen ging, der u. a. im Spezialkinderheim „Rankenheim“ in Groß-Köris, im Sonderkinderheim in Burgstädt, im Durchgangsheim in Alt-Stralau, im Jugendwerkhof in Hennickendorf untergebracht worden war und hierfür seine Rehabilitierung beantragt hatte. Für die Zeit im Jugendwerkhof Torgau war der Antragsteller bereits in einem gesonderten Verfahren rehabilitiert worden.

Der Antragsteller hatte seinen Antrag auf Rehabilitierung damit begründet, dass die Einweisungen politisch motiviert waren, er mehrfach versucht habe, im Alter von neun Jahren die innerdeutsche Grenze zu passieren und zu seinem in die Bundesrepublik Deutschland ausgereisten Vater zu ziehen. Er verwies zudem auf die menschenunwürdige Behandlung während seiner Heimunterbringungen, wobei er schwerste körperliche und seelische Misshandlungen erlebt habe.

Das Kammergericht lehnte diesen Antrag ab, da angeblich Fürsorgegründen für die Einweisungen vorgelegen hätten. Die Mutter des Antragstellers habe Alkoholprobleme gehabt, an deren Folgen sie 1974 auch verstorbenen sei. Zudem habe es unentschuldigtes Fehlen des Antragstellers in der Schule gegeben. Die gesetzliche Vermutung rechtsstaatswidriger Einweisungsgründe sei daher widerlegt.

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hob nun die ablehnende Entscheidung des Kammergerichts wegen Verstoßes das Willkürverbot, den Grundsatz effektiven Rechtsschutzes und wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auf.

Der Verfassungsgerichtshof führt in der Entscheidung aus, dass das Gebot effektiven Rechtsschutzes grundsätzlich zu einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Verfahrensgegenstandes führen muss. Der Antragsteller hatte einen Verstoß gegen sein Recht auf Ausreise dargelegt, welches zu den grundlegenden Menschenrechten gehört. Das Gericht hätten daher die näheren Umstände der Ausreise des Vaters, der Heimeinweisungen und der Fluchtversuche untersuchen müssen. Das Gericht hätte insoweit alle Erkenntnisquellen wie z. B. die Vernehmung des Betroffenen und der von ihm genannten Zeugen zu nutzen gehabt.

In dem vom Verfassungsgerichtshof zu entscheidenden Fall kam zudem eine Rehabilitierung wegen groben Missverhältnisses zwischen dem Anlass der Heimeinweisung und der angeordneten Unterbringung in Betracht. Dafür hätte das Kammergericht die damals herrschenden Lebensbedingungen in den Heimen im Rahmen Amtsermittlungspflicht aufklären müssen. Dem stand auch nicht entgegen, dass die Mutter ab dem Jahre 1963 nicht mehr bereit war, den Antragsteller wieder bei sich aufzunehmen. Es in dem Fall nämlich Hinweise darauf gab, dass die fehlende Aufnahmebereitschaft des Kindes durch die Mutter zumindest auch durch die Angst vor Repressalien verursacht worden war oder sich sonst als kausale Folge der zwangsweisen Einweisung mit daran anknüpfender Entfremdung und der Angst darstellte.

Die Annahme des Kammergerichts, dass die gesetzliche Vermutung einer politischen oder sachfremden Einweisungsmotivation im behandelten Fall widerlegt worden sei, verstoße zudem gegen das Willkürverbot. Die Nichterweislichkeit anspruchsbegründender Tatsachen gehe nur dann zu Lasten des Antragstellers, wenn die gesetzliche Vermutung nicht eingreife. Wenn die Ermittlungen des Gerichts auf fürsorgliche Gesichtspunkte und auf sachfremde bzw. politische Gründe der Einweisung hindeuten, muss feststehen, dass der eine oder der andere Grund ausschlaggebend war. Steht dies nach Ausschöpfung aller möglichen Erkenntnisquellen nicht fest, greift die gesetzliche Vermutung zu Gunsten des ehemaligen Heimkindes. Gegen die Widerlegung der Regelvermutung spreche zudem, wenn der Betroffene „nahezu ausnahmslos in der Umerziehung dienenden, teil geschlossenen Heimen untergebracht war und nicht in regulären, offenen Kinderheimen.“

Der verfassungsrechtliche Verstoß gegen das rechtliche Gehör liege darin, dass das Gericht die Argumentation zu den Ausreisebestrebungen von Vater und Sohn und der alternativen Unterbringung bei seinem Vater in der Bundesrepublik Deutschland als unbeachtlich angesehen habe. Es hätte diesen Vortrag in Betracht ziehen und ihm gegebenenfalls weiter nachgehen müssen. Das Kammergericht muss nun erneut über den Fall entscheiden.

Fundstelle: Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 16.06.2021, Az. 108/20

Nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz wird vermutet, dass die Anordnung der Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente, wenn eine Einweisung in ein Spezialheim oder in eine vergleichbare Einrichtung, in der eine zwangsweise Umerziehung erfolgte, stattfand. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Allerdings divergiert die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu den Anforderungen an die Widerlegung dieser gesetzlichen Regelvermutung ganz erheblich.

Das Thüringer Oberlandesgericht in Jena hat nun in dem Beschluss vom 16.11.2020, Az. 1 Ws-Reha 6/17, festgestellt, dass diese Vermutung nicht schon durch die Benennung gängiger, nach der Verordnungslage und der wissenschaftlich belegten Rechtspraxis erwartbarer Anordnungsgründe in der Einweisungsentscheidung widerlegt wird.

Die Widerlegung setzt vielmehr die Feststellung atypischer, über eine Schwererziehbarkeit im vorbeschriebenen Sinne hinausgehender Umstände voraus, die die Maßnahme im konkreten Einzelfall ausnahmsweise nicht als rehabilitierungswürdiges (System-)Unrecht erscheinen lassen.

Das Thüringische Oberlandesgericht begründet das in dem Beschluss unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung wie folgt:

„Nur so lässt sich der mit der Gesetzesfassung begründeten Gefahr begegnen, dass Betroffene, deren Jugendhilfeakten noch vorhanden sind, auf Grundlage einer möglicherweise die tatsächlichen Anordnungsgründe verschleiernden Aktenlage schlechter gestellt werden als die, deren Akten nicht mehr aufgefunden werden können (ohne diese vom Gesetzgeber offenbar in Kauf genommene Konsequenz allerdings gänzlich ausschließen zu können).“

Das Thüringische Oberlandesgericht zieht den Schluss, dass die gesetzliche Vermutung nicht schon dann entkräftet ist, wenn sie durch den Beweis ihrer möglichen Unrichtigkeit nur erschüttert ist. Sie muss vielmehr durch den vollen Beweis ihres Gegenteils widerlegt sein, das Gericht muss also die Überzeugung vom Gegenteil der Vermutung gewinnen.

Fundstelle: Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16.11.2020, Az. 1 Ws-Reha 6/17

Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hatte über die Regelung zur Befreiung von der Maskenpflicht bei Vorlage eines ärztlichen Attests zu entscheiden.

Nach der Verordnung des Landes Brandenburg (Dritte Verordnung über befristete Eindämmungsmaßnahmen aufgrund des SARS-CoV-2-Virus und COVID-19 im Land Brandenburg vom 15.12.2020) mussten Personen, denen die Verwendung einer Mund-Nasen-Bedeckung wegen einer Behinderung oder aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich oder unzumutbar ist, dies grundsätzlich vor Ort durch ein schriftliches ärztliches Zeugnis im Original nachzuweisen. Weiter musste das Attest mindestens den vollständigen Namen und das Geburtsdatum, die konkret zu benennende gesundheitliche Beeinträchtigung (Diagnose) sowie konkrete Angaben beinhalten, warum sich hieraus eine Befreiung von der Tragepflicht ergibt.

Diese Regelung hielt das Oberverwaltungsgericht in seiner Entscheidung über den Eilantrag für nicht rechtmäßig. Zwar könne der Verordnungsgeber die Vorlage des Attests im Original verlangen, nicht jedoch die Angabe der Diagnose vorschreiben. Das Oberverwaltungsgericht kam im Rahmen der in Eilrechtsverfahren üblichen Folgenabwägung zu dem Ergebnis, dass  schon fraglich sei, ob der datenschutzrechtliche Eingriff im Infektionsschutzgesetz eine hinreichende Rechtsgrundlage finde. Jedenfalls drohe dem Antragsteller, dass er seine konkrete Diagnose und sich daraus ergebene Folgen an einer Vielzahl von nicht-öffentlichen Stellen (Geschäfte, öffentliche Verkehrsmittel, Arbeits- und Betriebsstätten, Büro- und Verwaltungsgebäude, Versammlungen unter freiem Himmel, religiöse Veranstaltungen) vor Ort offenbaren müsse. Diese Stellen waren ihrerseits nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet, Bußgelder drohten diesen nicht.

Die Regelung, dass das Attest auch eine Diagnose enthalten müsse, wurde daher vom Oberverwaltungsgericht vorläufig außer Kraft gesetzt. Mittlerweile (Stand 31.01.2021) hat das Land Brandenburg die Regelung geändert, danach muss das Attest nur dann zusätzlich konkrete Angaben beinhalten, warum die betroffene Person von der Tragepflicht befreit ist, wenn es bei Behörden oder Gerichten vorgelegt wird. Eine Kopie des Attests darf nicht gefertigt werden (vgl. Fünfte SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung des Landes Brandenburg vom 22.01.2021).

Fundstellen: Oberverwaltungs­gericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 04.01.2021, Az. OVG 11 S 132/20, Beschluss vom 06.01.2021, Az. OVG 11 S 138/20; Pressemitteilung vom 07.01.2021

Eine historische Frage hatte das Verwaltungsgericht Potsdam zu klären. In dem Gerichtsstreit ging es um die Frage, ob die Bekennende Kirche bzw. deren Mitglieder im Dritten Reich als Kollektiv der Verfolgung (im Sinne des Vermögensgesetzes) ausgesetzt waren.

Die Klägerseite forderte Rückübertragung eines Grundbesitzes nach dem Vermögengesetz in Verbindung mit der Rückerstattungsanordnung (REAO). Aus Sicht der Klägerseite handelte es sich um einen Zwangsverkauf zu Zeiten der nationalsozialistischen Herrschaft. Dieser sei u. a. deshalb erfolgt, weil der damalige Eigentümer Mitglied der Bekennenden Kirche war und diese im Dritten Reich aus religiösen Gründen einer Kollektivverfolgung unterlagen. Die Klägerseite machte einen Anspruch auf Rückübertragung geltend, weil die Nationalsozialisten zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags zwischen dem Alteigentümer und der Stadt Berlin über das Grundstück im Jahre 1937 die Zerschlagung der Bekennenden Kirche in ihrer Gesamtheit beabsichtigten. Die Kläger hatten vorgebracht, dass es sich bei der Bekennenden Kirche um eine im Verhältnis zur Gesamtzahl der Protestanten im Deutschen Reich kleine Gruppierung gehandelt habe, deren Mitglieder sich dazu verpflichtet hatten, durch ihr Bekenntnis zum unverfälschten Evangelium das Bestreben des NS-Regimes zu bekämpfen, den Nationalsozialismus als neue Religion mit Adolf Hitler als neuen Erlöser einzusetzen. Die Klägerseite war der Meinung, dass die Bekennende Kirche damit in ihrer Gesamtheit aus Sicht der Nationalsozialisten zu den wichtigsten Weltanschauungsgegnern zählte. Der nationalsozialistische Staat habe gegenüber der Bekennenden Kirche nicht nur zum Mittel der Finanzaufsicht gegriffen, sondern die Ausbildung und Ordination von Pfarrern sowie die Publikation oder Kanzelabkündigung von kirchenpolitischen Äußerungen und von Beschlüssen der Bekenntnissynoden verboten. Der Bekennenden Kirche sei es daher nur noch durch illegale Verbreitung von Flugblättern und Schriften möglich gewesen, gegen die antichristlichen Bestrebungen des nationalsozialistischen Regimes anzugehen; die Verfasser, Austräger und Verleger dieser Schriften seien verfolgt worden.

Das Verwaltungsgericht Potsdam hatte die Klage bereits mit Urteil vom 07.11.2013, Az. 1 K 2032/08, abgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte das Urteil allerdings mit Beschluss vom 18.12.2014, Az. 8 B 55/14 wieder aufgehoben, die Sache an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen und angeregt, ein Sachverständigengutachten zur Frage der Kollektivverfolgung der Bekennenden Kirche durch den nationalsozialistischen Staat einzuholen. Dem ist das Verwaltungsgericht nun nachgekommen, es hat die Klage allerdings erneut abgewiesen. Denn das eingeholte Gutachten komme zu dem Ergebnis, dass in der historischen Forschung weithin Einigkeit bestehe, dass die Bekennende Kirche keine Widerstandsbewegung gegen das NS-Regime war, auch nicht in ihrem Selbstverständnis.

Das Verwaltungsgericht Potsdam führt in dem Urteil aus, dass die Bekennede Kirche eine theologisch motivierte Gegenbewegung zu den Deutschen Christen gewesen sei und in Teilen zur staatlichen Kirchenpolitik, ohne aber die NS-Ordnung grundlegend in Frage zu stellen. Nur Einzelpersonen hätten diese Politik des Schweigens durchbrochen. Zwar habe die Bekenntniskirche dem Regime als innenpolitischer Störfaktor gegolten. Wegen ihrer Größe, bedeutender Verflechtungen zu den gesellschaftlichen Funktionseliten und internationaler Solidarbeziehungen habe sie jedoch geduldet werden müssen. Aus der Wahrnehmung weltanschaulicher NS-Rigoristen als ein geistiges Hindernis auf dem langfristigen Weg der Durchsetzung totalitärer nationalsozialistischer Herrschaft sei keine Verfolgung sämtlicher Mitglieder gefolgt. Mitgliederverfolgung habe exponierte Theologen und Führungspersönlichkeiten im Zusammenhang mit konkreten Vorwürfen betroffen. Selbst unter diesen hätten einige die Zeit bis 1945 nahezu unbehelligt überstanden. Der Besitz einer Mitgliedskarte, der sogenannten Roten Karte, habe jedenfalls keine Verfolgungsmaßnahmen nach sich gezogen.

Nach dem vom Gericht eingeholten Gutachten zur Verfolgungssituation der Bekennenden Kirche einschließlich ihrer Mitglieder sah das NS-Regime die einzelnen Mitglieder der Bekennenden Kirche nur dann als Hindernis an, wenn sie mit konkreten, als widerständig wahrgenommenen Handlungen auftraten, infolge derer sie dann individuell Verfolgungsmaßnahmen unterlagen. Eine konkrete Absicht des Ausschluss aller Mitglieder der Bekenntniskirche aus dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben des Reichs habe nicht vorgelegen. Selbst eine konsequente auf die Bekenntniskirche als Institution bezogene Verfolgung bzw. eine Absicht hierzu habe nicht vorgelegen. Das Gutachten komme zu dem Ergebnis, es sei im Dritten Reich hinsichtlich der Bekenntniskirche als organisierter Gemeinschaft aus innen- wie außenpolitischen Rücksichten und mit Blick auf die Erhaltung der vom Regime proklamierten Volksgemeinschaft zu keinem Zeitpunkt zur Absicht und Umsetzung einer konsequenten Verfolgung der Gemeinschaft (Verbot, vollständiger Entzug der finanziellen Mittel o. ä.) gekommen; erst recht gelte dies für sämtliche einfachen Mitglieder der Bekennenden Kirche.

Der Gutachter führe aus, dass die Bekennende Kirche selber sich nicht als politische Widerstandsbewegung verstanden habe und einen betont theologischen, am Bekenntnis und am Wort der Bibel orientierten Zugang zum Glauben propagiert habe. Aus Sicht des NS-Regimes hätten vor allem die zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche gespaltenen Landeskirchen (mit zumeist deutschchristlichen Kirchenleitungen und oppositioneller Bekenntniskirche), ein fortwährendes politisches Ärgernis dargestellt. Das NS-Regime habe in dem permanenten Streit eine ernsthafte Gefährdung der proklamierten Volksgemeinschaft gesehen. Es habe in der gesamten Zeit seines Bestehens hinsichtlich des „Ärgernisses“ der Bekennenden Kirche keine eindeutige und lineare Kirchenpolitik gefunden, kirchenpolitische Fragen seien vielmehr in tagespolitischer Taktik sowie mehrstimmig und uneindeutig behandelt worden. Bis zum Schluss habe keine Klarheit darüber bestanden, wie die religiöse Frage zu lösen sei. Radikale antichristliche und antikirchliche Ansätze hätten sich wohl auch vor dem Hintergrund, dass mindestens zwei Drittel aller Parteimitglieder zugleich Mitglieder einer der beiden großen christlichen Konfessionen waren, nicht durchgesetzt.

Zwar sei seit 1937, nach der Olympiade, der kirchenpolitische Kurs wieder spürbar verschärft worden, hinsichtlich der Bekennenden Kirche etwa durch das Verbot und die schärfere Ahndung von Kollektensammlungen der Bekenntniskirche, durch Einsetzung der Finanzabteilungen, durch ein Verbot der bekenntniskirchlichen Hochschulen, durch die Verhaftung Niemöllers in Berlin-Dahlem am 1. Juli 1937 und durch eine scharfes Vorgehen gegen die Initiatoren einer Gebetsliturgie anlässlich der sogenannten Sudetenkrise im September 1937. Jedoch sei die Bekennende Kirche auch dann eine zwar nicht erwünschte, aber nicht verbotene, also legale und letztlich geduldete kirchliche Gruppierung geblieben. Grundsätzlich habe zwar der Einfluss beider Konfessionen im Reich zurückgedrängt werden sollen; dies sei jedoch eine sehr langfristige religionspolitische Strategie gewesen, die nicht zeitnah umzusetzen war und die jedenfalls nach Kriegsausbruch auf eine spätere Zukunft, nämlich auf die Zeit nach einer siegreichen Beendigung des Krieges geschoben wurde.

Im Ergebnis habe Es im ‚Dritten Reich‘ keine allgemeine kollektive Verfolgung wegen bloßer Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche gegeben, wann immer Mitglieder der Bekennenden Kirche belangt worden seien, dann sei dies ausnahmslos deshalb geschehen, weil ihnen konkrete Taten wie z. B. politische Predigtworte, verbotene Versammlungen, regimekritische Publikationen oder unerwünschte Auslandsverbindungen zur Last gelegt worden seien. In der großen Mehrzahl habe es sich bei den Betroffenen um exponierte Bekenntnistheologen gehandelt, zumeist Pfarrer. Der Gutachter führt darüber hinaus aus, dass auch die Organisationsformen und Einrichtungen der Bekennenden Kirche nicht einer allgemeinen Verfolgung unterlegen hätten. Gottesdienste und Bibelstunden der Bekennenden Kirche hätten ebenso bis in die Kriegszeit fortgeführt werden können wie Bekenntnissynoden, wenn auch letztere unter restriktiven Bedingungen. Die größte überregionale Zeitschrift der gesamtdeutschen Bekennenden Kirche, die in Göttingen erscheinende Junge Kirche, sei immerhin bis zu ihrem Verbot im Jahr 1941 erschienen. Zu dieser Zeit hätte allerdings auch zahlreiche andere kirchliche Periodika ihr Erscheinen kriegsbedingt einstellen müssen. Die engen Verflechtungen von Bekennender Kirche mit der Deutsche Evangelischen Kirche, deren Teil sie war, hätten einer generellen Verfolgung entgegengestanden. Dies ändere nichts daran, dass die Bekennende Kirche durch innerkirchliche wie staatliche repressive Maßnahmen reguliert und sukzessive eingeschnürt worden sei. Diese Maßnahmen hätten sich aber auf das Spitzenpersonal der Bekennenden Kirche konzentriert, vor allem auf exponierte Bekenntnispfarrer wie Martin Niemöller und Martin Albertz sowie einige Universitätstheologen wie Karl Barth, die sich mit kritischen Predigten, Denkschriften und anderen Erklärungen nach außen wandten. Aber selbst insoweit sei das Vorgehen nicht konsequent gewesen, wie sich am Beispiel der Unterzeichner der Denkschrift an Hitler von Mai/Juni 1936 sehen lasse, die nicht belangt worden seien. Es ergebe sich also das Bild, dass nicht einmal alle Leitungsmitglieder der Bekennenden Kirche, geschweige denn sämtliche einfachen Mitglieder wegen ihrer Zugehörigkeit verfolgt worden seien. Allein der Umstand, Inhaber der sogenannten Roten Karte zu sein, habe keine Verfolgungskonsequenzen mit sich gebracht. Auch im Staatsdienst stehende Mitglieder, Beamte, Mediziner und Juristen hätten allein aufgrund ihrer Mitgliedschaft keine Konsequenzen zu erleiden gehabt und hätten im Amt bleiben können. Eine – wohl eher vereinzelt vorkommende – gleichzeitige Mitgliedschaft von Laien in der NSDAP und in der Bekennenden Kirche habe im Konfliktfall, also bei einem besonderen Hervortreten als Mitglied der Bekennenden Kirche, eher nicht zu einer Schonung, sondern mitunter zu einem Parteiausschlussverfahren geführt.

Das Verwaltungsgeircht kommt auf der Grundlage der gutachterlichen Ausführungen in einer Gesamtschau zwar zu dem Befund, dass die Bekennende Kirche von Teilen der NSDAP durchaus als Hindernis für die Durchsetzung langfristig angelegter weltanschaulicher Ziele, nicht aber allgemein für die Durchsetzung des aktuell wirkenden nationalsozialistischen Totalitätsanspruchs wahrgenommen wurde. Jedenfalls wurde wegen innen- wie außenpolitischer Rücksichten und auch aufgrund einer uneinheitlichen Kirchenpolitik zu keinem Zeitpunkt die Absicht einer konsequenten repressiven Verfolgung der Bekennenden Kirche in ihrer Gesamtheit und im Speziellen aller ihrer einzelnen Mitglieder gefasst. Die Umsetzung einzelner repressiver Maßnahmen, die die Finanzierung und die Pfarrerausbildung sowie die Verfolgung einzelner hervorgetretener Pfarrer und Hochschullehrer betrafen, begründen nicht einmal ohne Weiteres die Annahme einer konsequenten Verfolgung der Bekennenden Kirche als organisierter Gemeinschaft. Hinsichtlich eines Willens, die einfachen Mitglieder vom kulturellen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands auszuschließen, kommt diesem staatlichen Vorgehen keine Aussagekraft zu. Das Regime habe zwar in der Bekennenden Kirche frühzeitig einen Feind erkannt und dass die Praxis der Vorladungen und Verhöre bei der Gestapo habe sich nicht nur gegen Pfarrer sondern auch gegen eine Vielzahl von aktiven Mitgliedern von Gemeinden gerichtet und die Haft und Verfolgung u. a. nach dem Heimtückegesetz habe der Abschreckung der Gemeindemitglieder gedient. Eine Kollektivverfolgung der Bekennenden Kirche in ihrer Gesamtheit, einschließlich aller ihrer Mitglieder, oder des Personenkreises der Mitglieder der Bekennenden Kirche in ihrer Gesamtheit im Sinne einer kulturellen und wirtschaftlichen Ausschließungsabsicht scheide aber aus.

Fundstellen: Verwaltungsgericht Potsdam, Urteil vom 23.10.2019, Az. 2 K 132/15; Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 18.12.2014, Az. 8 B 55/14

Das Berliner Institut für Sozialforschung hat die heutige Lebenslage der Opfer von DDR-Unrecht und deren Familienangehöriger in Brandenburg wissenschaftlich erforscht. Die Sozialstudie kommt zu dem Ergebnis, dass die extremen Belastungen und die Ausnahmeerfahrungen den weiteren Lebensverlauf der meisten Betroffenen negativ beeinflusst haben. Das verfügbare Einkommen der Betroffenen stelle sich oft als sehr prekär dar und liege deutlich unter dem Durchschnitt der Bevölkerung im Land Brandenburg. 49 % der Betroffenen verfügen über ein persönliches monatliches Nettoeinkommen von unter 1.000 €.

Die Betroffenen klagen noch heute in 70 % der Fälle über psychische Folgen und in 38 % der Fälle über körperlichen Folgen des erlittenen Unrechts. Häufig treten bei ihnen beispielsweise Schlafstörungen, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen auf.

Die negativen materiellen  Folgen  und die Auswirkungen des Unrechts auf die berufliche Laufbahn wirken bis heute stark nach. Betroffene die für das erlittene Unrecht juristisch rehabilitiert wurden,  schätzen nach den Ergebnissen der Studie  ihren  Gesundheitszustand  als  besser  ein  und sind zufriedener mit der Demokratie in Deutschland. Betroffene von DDR-Unrecht stehen dabei der  demokratischen  Gesellschaft heute ohnehin insgesamt positiver gegenüber als der brandenburgische Bevölkerungsdurchschnitt.

Fundstellen: Die Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen DiktaturBerliner Institut für Sozialforschung GmbH, „Studie zu aktuellen Lebenslagen von Menschen aus dem Land Brandenburg, die in der SBZ / DDR politisch verfolgt wurden oder Unrecht erlitten und deren mitbetroffenen Familien“

Das Kammergericht hatte über einen vom Amtsgericht erlassenen Haftbefehl in einem Strafbefehlsverfahren zu entscheiden. Das Amtsgericht hatte zunächst einen Strafbefehl mit einer Geldstrafe erlassen, gegen den die Beschuldigte Einspruch eingelegt hatte. Ein Strafbefehl ähnelt einer Anklageschrift, enthält aber eine konkrete Strafe und wird von einem Gericht erlassen. Legt der Beschuldigte gegen einen Strafbefehl keinen Einspruch ein, dann steht der Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil gleich. Auf diese Weise kann daher ein Strafurteil ohne mündliche Verhandlung ergehen, die Strafhöhe kann dabei bis zu einem Jahr Bewährungsstrafe betragen.

Nach den Vorschriften der Strafprozessordnung kann sich der Beschuldigte -nach eingelegtem Einspruch gegen einen Strafbefehl- in der mündlichen Verhandlung grundsätzlich durch einen Verteidiger vertreten lassen. In dem vom Kammergericht zu entscheidenden Fall hatte das Amtsgericht allerdings das persönliche Erscheinen der beschuldigten Person angeordnet. Diese war zum Hauptverhandlungstermin nicht erschienen, weshalb das Amtsgericht einen Haftbefehl erlassen hat.

Die von mir hiergegen eingelegte Beschwerde wurde vom Landgericht Berlin verworfen, die weitere Beschwerde zum Kammergericht hatte dagegen Erfolg. Das Kammergericht hob den Haftbefehl durch Beschluss vom 11.12.2019 mit der zutreffenden Begründung auf, dass der Erlass des Haftbefehles nicht verhältnismäßig war. Hier hätte das Amtsgericht u. a. die Möglichkeit prüfen müssen, ob es auch ohne Anwesenheit der betroffenen Person hätte verhandeln können. Selbst wenn das persönliche Erscheinen angeordnet wird, kommt der Erlass eines Haftbefehls nur in Betracht, wenn das Gericht nach sorgfältiger Prüfung diese Möglichkeit ausgeschlossen hat. Zwar kann das Amtsgericht auch wegen des Nichterscheinens bei persönlicher Ladung des Beschuldigten einen Haftbefehl erlassen, das muss aber in der Ladung jeweils ausdrücklich angedroht werden, was hier nicht der Fall war.

Das Kammgericht weist ergänzend darauf hin, dass dem Strafbefehlsverfahren die Verhaftung des Angeklagten strukturell fremd ist. Der Erlass eines Haftbefehls darf zudem nicht dem Selbstzweck dienen, den Ungehorsam des Angeklagten zu ahnden. Es müsste also vor Erlass eines Haftbefehls vom Gericht sorgfältig geprüft und dargelegt werden, dass die Aufklärungspflicht oder andere zwingende Gründe die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung unbedingt erforderlich machen.

Fundstelle: Kammergericht, Beschluss vom 11.12.2019, Az. 2 Ws 200/19 – 121 AR 293/19

Die Bußgeldnorm der Berliner Corona-Eindämmungsverordnung für Verstöße gegen das Mindestabstandsgebot und das Gebot, physisch soziale Kontakte auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren, wurde vom Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin mit Beschluss vom 20.05.2020, Az. VerfGH 81 A/20, einstweilen außer Kraft gesetzt.

Im Rahmen einer Folgenabwägung führt der Verfassungsgerichtshof in dem Beschluss aus, dass sich die Bußgeldvorschrift (§ 24 SARS-CoV-2-EindmaßnV) auf (zu) unbestimmte Rechtsbegriffe in der Eindämmungsverordnung bezieht (nämlich auf § 1 Satz 1 und 2 SARS-CoV-2-EindmaßnV). Der Bürger könne nicht in ausreichender Weise erkennen, welche Handlungen oder Unterlassungen bußgeldbewehrt sind.

Diese mangelnde Erkenntnismöglichkeit kann gerade rechtstreue Bürgerinnen und Bürger veranlassen, sich in ihren Grundrechten noch weiter zu beschränken, als es erforderlich wäre, um keine Ordnungswidrigkeit zu begehen.

Eine Bußgeldandrohung von bis zu 25.000 Euro entfaltet zusätzliche abschreckende Wirkung. Der vom Berliner Senat erlassene Bußgeldkatalog wurde zudem nicht angepasst, der Großteil der Tatbestände des Bußgeldkatalogs lässt sich nicht mehr in Einklang mit den mittlerweile gelockerten Corona-Verordnungen bringen.

Damit hat der Verfassungsgerichtshof zwar noch nicht darüber entschieden, ob die Bußgeldvorschrift auch verfassungswidrig ist. Es dürfte aber zu erwarten sein, dass auch im Hauptsachverfahren die Bußgeldvorschrift in der jetzigen Form (Stand 27.05.2020) keinen Bestand haben wird.

Fundstelle: Verfassungsgerichtshof von Berlin, Beschluss vom 20.05.2020, Az. VerfGH 81 A/20; Pressemitteilung vom 26.05.2020

Die Frage ab welchem Alter die Krankenkasse Hilfsmittel -wie einen Therapiestuhl- als Zweitversorgung für eine Kita für ein behindertes Kind genehmigen muss, war für Kinder jüngere betroffene Kinder bislang umstritten. Das Sozialgericht Berlin hat in dem von mir geführten Klageverfahren mit Beschluss vom 28.05.2019, Az. S 208 KR 1866/18, entschieden, dass auch für behinderte Kinder unter drei Jahren ein Anspruch auf Versorgung mit einem Therapiestuhl besteht.

Die Krankenkasse hatte die Versorgung mit dem Therapiestuhl aus dem Grund abgelehnt, dass eine Zweitversorgung für den Kindergarten nur dann genehmigt werden könne, wenn der Besuch der Einrichtung dem Hinführen zur Schulfähigkeit diene. Das sei bei Kindern unter drei Jahren grundsätzlich nicht der Fall, wie sich aus dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 03.11.2011, Az. B 3 KR 8/11 R, ergeben soll. Die Schulfähigkeit sei nur insoweit als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens anzusehen, als es um die Vermittlung von grundlegendem schulischen Wissen und Können an Schüler im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht oder der Förder- bzw. Sonderschulpflicht gehe.

Dem ist das Sozialgericht Berlin nicht gefolgt, der Anspruch auf Kostenübernahme für den Therapiestuhl für die Kita ergibt sich nach dem Urteil vom 28.05.2019 aus den Grundsätzen des mittelbaren Behinderungsausgleichs. Die Versorgung mit dem Therapiestuhl für die Kindertagesstätte betrifft ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens, weil der begehrte Therapiesitz dem damals zwei Jahre alten Kind die Teilnahme an Beschäftigungsangeboten gemeinsam mit anderen Kindern in der Kita ermöglicht. Das Sozialgericht führt in dem Urteil aus:

„Da die Klägerin – anders als gleichaltrige Kinder – nicht selbständig sitzen kann, ist sie ohne ein Hilfsmittel, das das aufrechte Sitzen ermöglicht, nicht in der Lage, die anderen Kinder in ihren Aktionen beim Essen und Spielen in der Weise wahrzunehmen, wie es das Sitzen auf Augenhöhe ermöglicht. Ein in der Kindertagesstätte genutzter Therapiestuhl ermöglicht damit der Klägerin die Teilnahme an einem altersüblichen sozialen Lernprozess.“

Die gesetzlichen Krankenversicherungen haben die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass behinderte Menschen das staatlicherseits als Minimum angesehene Maß an Bildung erwerben können. Die Versorgung mit dem Therapiestuhl ist auch erforderlich, da das Zimmeruntergestell, das dem betroffenen Kind im vorangegangen einstweiligen Rechtsschutzverfahren zugestanden wurde (vgl. Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 07.12.2018, Az. S 208 KR 1865/18 ER), wesentliche Nachteile hinsichtlich des mittelbaren Behinderungsausgleichs gegenüber einem Therapiestuhl aufweist. Die Eingliederung, eine Teilhabe an der üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger und damit an einem altersüblichen sozialen Lernprozess, werde hiermit nicht ausreichend gewährleistet.

Fundstellen: Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 28.05.2019, Az. S 208 KR 1866/18; Beschluss vom 07.12.2018, Az. S 208 KR 1865/18 ER, Bundessozialgericht, Urteil vom 03.11.2011, Az. B 3 KR 8/11 R

Das Amtsgericht Bernau hält die Strafverfolgung von Cannabisdelikten für verfassungswidrig und hat diese Frage daher mit Beschluss vom 18.09.2019 dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Nach Auffassung des Amtsgerichts Bernau sind alle  Regelungen  des  Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) verfassungswidrig,  soweit  sie Cannabisprodukte  in  der  Anlage I  zu  §  1  Abs.  1  BtMG  mit  der  Folge  aufführen,  dass  der unerlaubte  Verkehr  mit  diesen  Stoffen  den  Strafvorschriften  des  Betäubungsmittelgesetzes unterliegt.

Auch die Strafverfolgung des Erwerbs von Cannabis hält das Amtsgericht Bernau für verfassungswidrig. Der Beschluss des Amtsgerichts Bernau wurde umfangreich begründet und nunmehr veröffentlicht. Die Bestrafung von Cannabisdelikten verstößt nach dem Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Bernau u. a. gegen das Freiheitsrecht  der  Bürger, den Gleichheitsgrundsatz, das Gesetzlichkeitsprinzip, die allgemeine Handlungsfreiheit und das Recht auf Rausch.

Das Amtsgericht Bernau hält eine verfassungskonforme Auslegung der Normen des Betäubungsmittelgesetzes etwa durch die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit, von einer Bestrafung abzusehen, für nicht möglich. Dies ergäbe sich vor allem aus der Strafrechtspraxis, die hiervon wenig Gebrauch mache. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht noch aus (Stand 22.04.2020).

Fundstellen:  Amtsgericht Bernau, Beschluss vom 18.09.2019, Az. 2 Cs 226 Js 7322/19 (346/19); Pressemitteilung vom 20.04.2020

Die neue Gesetzeslage im Rehabilitierungsrecht für DDR-Unrecht (vgl. Blogartikel „Neue Rehabilitierungsgesetze für DDR-Unrecht in Kraft“ vom 28.11.2019) führt mittlerweile auch zu einer veränderten Rechtsprechung. Das Oberlandesgericht Rostock hatte mit Beschluss vom 12.2.2020, Az. 22 Ws_Reha 2/20, über einen solchen Fall zu entschieden.
Das betroffene ehemalige Heimkind war in der DDR in das Durchgangsheim Schwerin und in den Jugendwerkhof „Hübner-Wesolek“ in Bernburg eingewiesen worden und hatte diesbezüglich seine Rehabilitierung nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz beantragt. Das Landgericht Schwerin lehnte den Antrag ab und verweigerte selbst die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
Das Oberlandesgericht hatte über die Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Schwerin zu entscheiden und kam zu dem Ergebnis, dass die ablehnende Entscheidung des Landgerichts nach dem damals geltenden (alten) Recht rechtmäßig gewesen sei, nunmehr aber nach der Gesetzesänderung eine Rehabilitierung zu erfolgen habe. Das Oberlandesgericht hob daher die Entscheidung des Landgerichts Schwerin auf und rehabilitierte die Antragstellerin vollständig.
Nach der neuen Rechtslage gilt eine Regel nach der vermutet wird, dass Einweisungen in ein Spezialheim oder in eine vergleichbare Einrichtung der politischen Verfolgung oder sachfremden Zwecken dienten. Dem ehemaligen Heimkind eines Spezialheims wird damit die Beweisführung erleichtert. Im vorliegenden Fall hatte die Jugendhilfekommission, die Einweisung u. a. mit angeblichen Erziehungsschwierigkeiten der betroffenen Person begründet. Das reicht aber nicht aus, um die neue Regelvermutung zu entkräften, zumal gegen die betroffene Person wegen der Nichtanzeige einer geplanten Republikflucht ermittelt worden war. Das Strafverfahren gegen die betroffene Person war von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden, weil die Jugendhilfe Maßnahmen gegen die Betroffene eingeleitet hatte. Eine politische Motivation der Heimeinweisung lag mithin nahe.
Das Oberlandesgericht hat in dem Beschluss zudem klargestellt, dass unter die neu eingeführte Vermutungsregel auch Durchgangsheime und Jugendwerkhöfe fallen. Prozesskostenhilfe wurde nachträglich für beide Instanzen bewilligt.

Fundstelle: Oberlandesgericht Rostock, Beschluss vom 12.02.2020, Az. 22 Ws_Reha 2/20

Die vom Bundestag am 24.10.2019 beschlossenen Gesetzesänderungen der Rehabilitierungsgesetze (vgl. Blogartikel vom 27.10.2019: Änderungen in den Rehabilitierungsgesetzen beschlossen), wurden mittlerweile vom Bundespräsidenten ausgefertigt und am 28.11.2019 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Die Gesetzesänderungen traten daher am 29.11.2019 in Kraft.

Fundstelle: Bundesgesetzesblatt, Jahrgang 2019 Teil I Nr. 42 (BGBl. 2019 I 1752)

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 05.11.2019, Az. 1 BvL 7/16, entschieden, dass die derzeitige Sanktionsregelung für Hartz-IV-Bezieher teilweise verfassungswidrig ist. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass der Staat verpflichtet ist, das menschenwürdige Existenzminimum jedes Menschen sicherzustellen und dass die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür sein kann, dass ihm Menschenwürde zukommt.

Das Bundesverfassungsgericht kommt zu dem Ergebnis, dass die Sanktionsregelungen teilweise zu starr sind, weil sie außergewöhnliche Härten nicht ausreichend berücksichtigen und einen Sanktionszeitraum von drei Monaten vorgeben, ohne dass hiervon abgewichen werden kann. Hier hat der Gesetzgeber die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums überschritten.

Die Sanktionierung einer wiederholten Mitwirkungsverpflichtung in Höhe von 60 % des Regelbedarfs ist zudem verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Die Minderung des Hartz-IV-Satzes in der Höhe von 60 % ist unzumutbar, weil das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum nicht mehr gewährleistet wird und starr für drei Monate angeordnet wird.

Konsequenterweise hat das Bundesverfassungsgericht zudem entschieden, dass der vollständige Wegfall des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV) wegen einer Pflichtverletzung verfassungswidrig ist. Nach dieser Entscheidung dürfen derzeit also keine Sanktionen über 30 % des Regelsatzes verhängt werden. Von einer Sanktionierung kann abgesehen werden, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Die Behörde kann zudem die Leistungen wieder erbringen, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder der Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklärt, den Pflichten nachzukommen.

Fundstelle: Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 74/2019, Urteil vom 05.11.2019, Az. 1 BvL 7/16

Der Bundestag hat am 24.10.2019 in dritter Lesung umfangreiche Änderungen an den Rehabilitierungsgesetzen für DDR-Unrecht verabschiedet.

Danach wird eine Vermutung aufgestellt, dass die Unterbringungsanordnung in einem Kinderheim rechtsstaatswidrig war, wenn eine Einweisung in ein Spezialheim oder in eine vergleichbare der Zwangsumerziehung dienende Einrichtung stattfand. Dieselbe Vermutung gilt, wenn gleichzeitig mit der Unterbringung der Kinder rechtsstaatswidrige, freiheitsentziehende  Maßnahmen  gegen  die  Eltern oder Elternteile vollstreckt wurden. Es muss ein Sach- und Zeitzusammenhang bestehen.

Die Opferrente wird von 300,00 € monatlich auf 330,00 € erhöht. Die dafür notwendige Haftdauer wird von 180 Tagen auf 90 Tage halbiert! Verfolgte nach dem beruflichen Rehabilitierungsgesetz erhalten statt 214,00 € monatlich nunmehr 240,00 € (bzw. für Rentner 180,00 € statt wie bisher 153,00 €).

Heimkinder, die wegen der rechtsstaatswidrigen Haft der Eltern ins Heim gekommen sind und nicht rehabilitiert wurden, weil sie nicht selbst verfolgt wurden, bekommen trotz einer negativen Rehabilitierungsentscheidung einen eigenen Anspruch auf die Opferrente (wenn die weiteren Voraussetzungen vorliegen). Sie können nunmehr also direkt die Opferrente beantragen.

Die Antragsfristen werden gestrichen.

Für festgestellte Zersetzungsmaßnahmen, für die bisher keine Ausgleichsleistungen gezahlt wurden, wird eine einmalige Zahlung in Höhe von 1.500,00 € eingeführt.

Fundstelle: Deutscher Bundestag, Mitteilung vom 24.10.2019

Die Bundesregierung hat -wie bereits berichtet- einen Gesetzesentwurf  zur Änderung der Rehabilitierungsgesetze für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR beschlossen. Danach sollen die Fristen zur Antragsstellung gestrichen und die Beweisführung erleichtert werden (vgl. Blogartikel vom 17.05.2019: „Bundesregierung will Fristen für Rehabilitierungsanträge für DDR-Unrecht streichen“). Aber was hat die Bundesregierung genau geplant? Die Antragsfristen sollen gestrichen werden, derzeit gilt eine Frist zur Antragstellung bis zum 31.12.2019. Das betrifft sowohl Anträge zur strafrechtlichen als auch zur beruflichen und verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung.

Weiterhin soll für den Fall, dass das Gericht nicht feststellen kann, dass die Anordnung eine Heimunterbringung der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente, das Gericht diese Tatsache zugunsten des jeweiligen Antragstellers für festgestellt erachten können. In § 10 StrRehaG soll der folgende dritte Absatz eingefügt werden:

„Kann die Tatsache, dass eine Anordnung der Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente, nicht festgestellt werden,


1. infolge der Lage, in die der Antragsteller durch die Unterbringung geraten ist,
oder
2. infolge des Umstandes, dass

a) Urkunden verloren gegangen sind,
b) Zeugen verstorben oder unauffindbar sind oder
c) die Vernehmung von Zeugen mit Schwierigkeiten verbunden ist, die in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Aussage stehen,

so kann das Gericht diese Tatsache unter Würdigung aller Umstände zugunsten des Antragstellers für festgestellt erachten.“

Es stellt in den Rehabilitierungsverfahren ein häufiges Problem dar, dass Unterlagen wie z. B. die ursprüngliche Jugendhilfeakte mittlerweile vernichtet wurden oder nicht mehr auffindbar sind. Teilweise werden von den Behörden sogar jetzt noch Unterlagen vernichtet („kassiert“), weil die Aufbewahrungsfristen abgelaufen seien und nicht in die entsprechende Archive überführt. Diese Änderung könnte daher vielen Betroffenen erheblich weiter helfen, wenn sie denn tatsächlich Gesetzeskraft erlangt.

Für Kinder von politisch Verfolgten Eltern, die ins Heim eingewiesen wurden, bleibt die Ausgangslage für eine Rehabilitierung schwierig (vgl. auch Blogartikel vom 17.06.2018: „War eine DDR-Heimeinweisung eines Kindes rechtsstaatswidrig bei politischer Verfolgung der Eltern?“). Für ehemalige Heimkinder von politisch verfolgten Eltern soll eine neue Regelung in § 18 StrRehaG eingeführt werden, damit die ehemaligen Heimkinder trotz negativer Rehabilitierungsentscheidung Unterstützungsleistungen von der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge erhalten können. Eine selbstständige Rehabilitierung ist für die Betroffenen in dem Entwurf der Bundesregierung (anders als noch im Entwurf des Bundesrats vom 03.11.2017, BR-Drs. 642/17) nicht vorgesehen. Eine Gleichstellung von Kindern, die wegen der politischen Verfolgung der Eltern eine Heimunterbringung in der DDR erleiden mussten, mit anderen rehabilitierten Heimkindern ist also bedauerlicher Weise nicht vorgesehen. Die ehemaligen Heimkinder von politisch verfolgten Eltern hätten danach keinen Anspruch auf eine eigene Rehabilitierung. Sie könnten aber immerhin Unterstützungsleistungen bei der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge beantragen. Die rechtliche Position von ins Heim eingewiesenen Kindern politisch verfolgter Eltern bliebe also schwierig.

Weitere bekannte Schwachstellen der Rehabilitierungsgesetze werden dagegen von der Bundesregierung überhaupt nicht in den Gesetzesentwurf aufgenommen. Der Bundesrat hat in einer Entschließung vom 19.10.2018 beispielsweise darauf hingewiesen, dass u. a. keine Ausgleichsleistungen für Opfer von Zersetzungsmaßnahmen vorgesehen sind, dass für verfolgte Schüler kaum Leistungen beanspruchen können, Opfer von Zwangsaussiedlungsmaßnahmen nicht ausreichend entschädigt werden,  die Verfolgungszeit für eine berufliche Benachteiligung mit mindestens drei Jahren viel zu lang angesetzt ist. Es bleibt nur zu hoffen, dass im Gesetzgebungsverfahren noch entsprechende Verbesserungen eingefügt werden können.

Fundstellen: Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, Informationsseite zum Gesetzgebungsvorhaben vom 15.05.2019; Bundesrat, Gesetzesentwurf vom 03.11.2017, BR-Drs. 642/17; Entschließung vom 19.10.2019, BR-Drs. 316/18



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